Folge 67 - geburtsanzeige (Hans Magnus Enzensberger)

Lyrikschule - Ein Podcast von Johannes Thiele

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Dass wir nicht frei sind im Leben, ist kein Gedanke der Neuzeit. Aber Enzensberger dekliniert die Unfreiheit des Menschen in seinem Gedicht geburtsanzeige so radikal durch, wie kaum ein anderer und zeigt, dass der Mensch von der Wiege bis zur Bahre ein determiniertes Wesen ist. Ihm werden Religion, ökonomische Zwänge und gesellschaftliche Verpflichtungen oktroyiert. Ob man sich dagegen wehren kann? Wer weiß ... vielleicht, indem man Lyrik liest.  geburtsanzeige wenn dieses bündel auf die welt geworfen wird die windeln sind noch nicht einmal gesäumt der pfarrer nimmt das trinkgeld eh ers tauft doch seine träume sind längst ausgeträumt es ist verraten und verkauft wenn es die zange noch am schädel packt verzehrt der arzt bereits das huhn das es bezahlt der händler zieht die tratte und es trieft von tinte und von blut der stempel prahlt es ist verzettelt und verbrieft wenn es im süßlichen gestank der klinik plärrt beziffern die strategen schon den tag der musterung des mords der scharlatan drückt seinen daumen unter den vertrag es ist versichert und vertan noch wiegt es wenig häßlich rot und zart wieviel es netto abwirft welcher richtsatz gilt was man es lehrt und was man ihm verbirgt die zukunft ist vergriffen und gedrillt es ist verworfen und verwirkt wenn es mit krummer hand die luft noch fremd begreift steht fest was es bezahlt für milch und telefon der gastarif wenn es im grauen bett erstickt und für das weib das es dann wäscht der lohn es ist verbucht verhängt verstrickt wenn nicht das bündel das da jault und greint die grube überhäuft den groll vertreibt was wir ihm zugerichtet kalt zerrauft mit unerhörter schrift die schiere zeit beschreibt ist es verraten und verkauft.