Folge 62 - Zur Frage der Reinkarnation (Enzensberger)

Lyrikschule - Ein Podcast von Johannes Thiele

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Hans Magnus Enzensberger ist gestorben und aus diesem Grund lassen wir seine Texte aufleben. Gerade der Text 'Zur Frage der Reinkarnation' offenbart uns einige ganz entscheidende Facetten, wenn es um Enzensbergers Denken, um sein Verhältnis zur Natur und zur Menschheit geht. Enzensberger Zur Frage der Reinkarnation Die Fliege stört mich. Ich betrachte die Fliege, beschreibe sie, wie sie die Taster rührt, die dreigliedrigen, dicht gefiederten Fühler, wie sie sucht, saugt, schöpft mit den fleischigen Endlippen ihres Rüssels. Die Flügel, aschgrau geädert, glänzend geschuppt, flimmern im Licht. Tarsen 1, Klauen, Borsten zittern vor Energie. Mit den zweimal viertausend Linsen ihrer riesigen Augen betrachtet sie mich. Wie behaart sie ist! Es stört sie nicht, dass ich sie beschreibe. Der anderen Fliege, hier, auf meinem Tisch, im Bernstein, die keinen von uns gestört hat, gleicht sie aufs Haar, aufs Haar. Wie ist sie zurückgekehrt, nach aberhundert Millionen Geschlechterfolgen? Vollkommen unverändert vibriert ihr schwarz gewürfelter Hinterleib. Sie stört mich. Ich verscheuche sie – diese, nicht jene Fliege. Bei ihrer nächsten Wiederkehr wird niemand mehr dasein, um zu beschreiben, wie die Fliege der Fliege gleicht. Es stört mich nicht, dass kein Mensch dasein wird, um sie zu verscheuchen. Brockes Die kleine Fliege Neulich sah ich, mit Ergetzen, Eine kleine Fliege sich, Auf ein Erlen-Blättchen setzen, Deren Form verwunderlich Von den Fingern der Natur, So an Farb′, als an Figur, Und an bunten Glantz gebildet. Es war ihr klein Köpfgen grün, Und ihr Körperchen vergüldet, Ihrer klaren Flügel Paar, Wenn die Sonne sie beschien, Färbt ein Roth fast wie Rubin, Das, indem es wandelbar, Auch zuweilen bläulich war. Liebster Gott! wie kann doch hier Sich so mancher Farben Zier Auf so kleinem Platz vereinen, Und mit solchem Glantz vermählen, Daß sie wie Metallen scheinen! Rief ich, mit vergnügter Seelen. Wie so künstlich! fiel mir ein, Müssen hier die kleinen Theile In einander eingeschrenckt, durch einander hergelenckt Wunderbar verbunden seyn! Zu dem Endzweck, daß der Schein Unsrer Sonnen und ihr Licht, Das so wunderbarlich-schön, Und von uns sonst nicht zu sehn, Unserm forschenden Gesicht Sichtbar werd, und unser Sinn, Von derselben Pracht gerühret, Durch den Glantz zuletzt dahin Aufgezogen und geführet, Woraus selbst der Sonnen Pracht Erst entsprungen, der die Welt, Wie erschaffen, so erhält, Und so herrlich zubereitet. Hast du also, kleine Fliege, Da ich mir an die vergnüge, selbst zur Gottheit mich geleitet.