Folge 28 - Morbide Gedichte (Gottfried Benn, Georg Heym)

Lyrikschule - Ein Podcast von Johannes Thiele

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Gedichte müssen sich nicht nur mit den idyllischen Fleckchen des Lebens befassen. Bestimmte Epochen und Autoren neigen auch gerade dazu, das Morbide in den Fokus zu nehmen. Das gilt besonders für die Zeit des Barock - geprägt durch die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges und sein modernes Pendant den Expressionismus. In dieser Folge werden zwei expressionistische Klassiker präsentiert, literaturgeschichtlich eingeordnet und interpretiert. Kleine Aster (Gottfried Benn) Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt. lrgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster zwischen die Zähne geklemmt. Als ich von der Brust aus unter der Haut mit einem langen Messer Zunge und Gaumen herausschnitt, muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt in das nebenliegende Gehirn. Ich packte sie ihm in die Brusthöhle zwischen die Holzwolle, als man zunähte. Trinke dich satt in deiner Vase! Ruhe sanft, kleine Aster! Ophelia I (Georg Heym) Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten, Und die beringten Hände auf der Flut Wie Flossen, also treibt sie durch den Schatten Des großen Urwalds, der im Wasser ruht. Die letzte Sonne, die im Dunkel irrt, Versenkt sich tief in ihres Hirnes Schrein. Warum sie starb? Warum sie so allein Im Wasser treibt, das Farn und Kraut verwirrt? Im dichten Röhricht steht der Wind. Er scheucht Wie eine Hand die Fledermäuse auf. Mit dunklem Fittich, von dem Wasser feucht Stehn sie wie Rauch im dunklen Wasserlauf, Wie Nachtgewölk. Ein langer, weißer Aal Schlüpft über ihre Brust. Ein Glühwurm scheint Auf ihrer Stirn. Und eine Weide weint Das Laub auf sie und ihre stumme Qual.