Menschen im Lockdown, in Gedanken versunken: Warum uns Vermeer so nahe ist

Vermeer hat sein ganzes Leben in Delft verbracht, ist dort 1632 geboren worden und 1675 gestorben – und er hat zeitlebens nur fünfzig Bilder gemalt, von denen 35 erhalten geblieben sind. Aber diese 35 Werke entfalten seit Jahrhunderten eine einzigartige Magie: Immer wieder zeigt er Menschen in geschlossenen Räumen, die konzentriert und versonnen ihren Gedanken nachhängen, egal ob sie einen Brief lesen, ihre Perlenkette betrachten oder auf einen Globus schauen. Und es ist genau dieser innere Zwischenzustand des Tagtraums, in den Vermeer seine Figuren versetzt, der zeitlos erscheint und in den wir problemlos einsteigen können, um mit ihnen weiter zu träumen. "Vom Innehalten" heißt die großartige Ausstellung, die gerade in den Staatlichen Museen in Dresden gezeigt wird – und deren größte Entdeckung auch im Podcast intensiv diskutiert wird: Die "Briefleserin", eines der wichtigsten Gemälde Vermeers überhaupt, hat nach einer Restaurierung plötzlich einen neuen Mitleser bekommen, der ihr über die Schulter schaut. Denn an der Rückseite des Raumes war für Jahrhunderte ein kleiner, etwas pummeliger Cupido, ein Liebesgott, übermalt gewesen – der nun zum Vorschein gekommen ist und den Bildcharakter komplett verändert Link zur Ausstellung: https://gemaeldegalerie.skd.museum/ausstellungen/vermeer-johannes-vermeers-dresdner-briefleserin-am-offenen-fenster-und-die-hollaendische-genremalerei-des-17-jahrhunderts/ In "Augen zu", dem Kunstpodcast von ZEIT und ZEIT ONLINE, sprechen Florian Illies und Giovanni di Lorenzo, in jeder Folge mit zwei Telefonjokern: In diesem Fall ist es Elisabeth Schlesinger, die als Restauratorin anschaulich davon berichtet, was es bedeutet hat, über Monate Millimeter um Millimeter auf einem millionenschweren Kunstwerk eine neue Figur unter den alten Schichten freizulegen. Und Hanno Rauterberg, der Kunstkritiker der ZEIT, untersucht die Frage, wie diese restauratorische Entdeckung den Bildgehalt verändert hat, denn plötzlich ist das ganze Bild moralisch geworden, es geht darum, dass die Briefleserin ganz offenbar ein sehr leidenschaftliches Schreiben erhalten hat und dass der Cupido an der Wand vor der Kraft der Begierden warnen soll. Macht dies das Bild stärker oder schwächer? Auf aufregende Weise kann nun neu diskutiert werden, wie dieser Meister der Stille, der nicht nur für Marcel Proust einer der größten Maler aller Zeiten war, auch als Moralist agiert hat. Und "Augen zu" versucht gleichzeitig, die Augen zu öffnen für die einzigartige Fähigkeit Vermeers, Stofflichkeit zu malen – er kann mit Pinsel und Öl den perfekten Eindruck eines Wollkleides erwecken, einem das Gefühl geben, auf einem echten Teppich zu wandeln und mit den Augen die Knicke auf einer papiernen Landkarte ertasten zu können. Und es ist in "Augen zu" auch davon die Rede, warum gerade in Zeiten des Lockdowns Vermeers Bilder so eine tröstende Kraft entwickelt haben: weil er lange vor Corona Menschen zeigte, die in geschlossenen Räumen gefangen sind, die sich in Gedanken verlieren und dabei doch sich selbst finden.

Om Podcasten

Was macht große Kunst aus? Darf man Beuys einen Scharlatan nennen? Muss man Botticelli lieben? Mit Leidenschaft, Fachwissen und Witz entführen die beiden Gastgeber einmal im Monat ihre Zuhörerinnen und Zuhörer in die wunderbare Welt der Kunst. Jede Folge widmet sich einem Künstler oder einer Künstlerin, ihren biografischen Wendungen, ihren besten Werken, ihren seltsamsten Ansichten. Überraschende Telefonjoker bieten jeweils neue Einblicke. Und am Ende hat jeder – auch mit geschlossenen Augen – einen Kopf voller Bilder. Florian Illies schreibt, seit er denken und sehen kann, über Kunst. Er gründete nach seinem Kunstgeschichtsstudium das Magazin “Monopol” und war lange Jahre Leiter des Auktionshauses Villa Grisebach. Er ist Autor der Bücher “1913" und “Generation Golf” und Mitglied des Herausgeberrats der ZEIT. Giovanni di Lorenzo ist Chefredakteur der ZEIT und ein leidenschaftlicher Kunstliebhaber. Dieser Podcast wird produziert von Pool Artists.